12. Sonntag nach Trinitatis: Apg 3,1-10

12. Sonntag nach Trinitatis: Apg 3,1-10

12. Sonntag nach Trinitatis: Apg 3,1-10

# Archiv Predigten 2018

12. Sonntag nach Trinitatis: Apg 3,1-10

Liebe Gemeinde,

mittlerweile kann man kaum noch mit der S-Bahn Richtung Innenstadt fahren kann, ohne auf dem Weg zum Bahnhof mindestens zwei Bettlern zu begegnen, in der S-Bahn von diversen – meist jungen - Leuten um Geld angegangen zu werden, entweder freundlich kumpelhaft oder indem auf allen Sitzreihen Tempotaschentuchpackungen mit einem kleinen Spendenaufruf versehen, still und leise verteilt und dann still und leise wieder eingesammelt werden? Ich finde das alarmierend und auch anstrengend.

Ich finde es anstrengend, dass ganz oft Menschen bei mir an der Tür des Pastorates stehen und mir zum Teil abenteuerliche Geschichten erzählen, warum sie jetzt gerade sofort und unbedingt Geld von mir brauchen. Ich hab schon so oft Brote geschmiert und Kaffee gekocht für Leute, die es zu allen passenden und unpassenden Zeiten vor meine Tür geschneit hat und habe schon alles erlebt von sehr freundlichen bis hin zu sehr unverschämten Reaktionen wie "Salamibrot können Sie behalten, mag ich nicht. Und Wasser brauch ich auch nicht. Haben Sie keinen Kaffee?"

Menschen haben mir versprochen haben, mir wiederzubringen, was ich ihnen vorgestreckt habe, um dann kurze Zeit später wieder vor meiner Tür zu stehen, natürlich wieder ohne Geld, aber inzwischen in einer neuen Notlage, der ich mich unbedingt jetzt sofort annehmen müsste.

Mich ärgert der Habitus und der selbstverständliche Anspruch: ihr als Kirche habt mir gefälligst was zu geben. Ihr als Kirche habt gefälligst dafür zu sorgen, dass ich... oder zumindest ein paar Euros für Zigaretten und eine Flasche Bier.

Im Küsterkreis haben wir immer mal wieder das Problem am Wickel, dass sich regelmäßig hier bei uns Bettler vor dem Gottesdienst direkt an die Kirchentür stellen und um Geld bitten. Sogar Trauergäste auf dem Weg zur Beerdigung werden manchmal angebettelt.

Das geht nicht, finde ich, dass Gottesdienst- oder Kirchenbesucher sich "gezwungen" fühlen müssen, etwas zu geben. Deshalb bitte wir die Bittsteller, sich an die Grundstücksgrenze zu stellen und nicht direkt an die Kirchentür.

Betteln vor der Kirchentür - das ist nicht nur ein Dauerbrenner für die täglich geöffneten Gotteshäuser in den Zentren der Großstädte und auch bei uns in Blankenese. Schon zu Zeiten des Jerusalemer Tempels stellten sich die Bettler gern da auf, wo sie an das schlechte Gewissen der Menschen appellieren konnten: Ihr, die ihr jetzt in eine Synagoge, eine Kirche, eine Moschee geht, ihr müsst uns helfen. Weil das Almosengeben zur Glaubenspraxis aller Religionen gehört. Und weil es deshalb in aller Regel lukrativ ist, genau dort, an ihrem Gotteshaus, zu stehen.

Weil jeder von uns weiß, welche Gedanken einem durch den Kopf schießen, wenn man damit konfrontiert ist: Was denken die anderen, wenn ich jetzt nichts gebe? Wie soll ich mich jetzt bloß verhalten, wo mich alle sehen, unabhängig davon, was ich eigentlich gern tun oder lassen würde? Muss ich nicht gerade bevor ich in die Kirche gehe, meine Hand aufmachen und helfen? Was, wenn es dem Bettler wirklich schlecht geht?

Und auf eine Weise tut es das ganz bestimmt, selbst dann, wenn es sich um organisierte Bettelei handelt wie hier in Blankenese meist. Morgens wird ein ganzer Schwung Menschen hier abgesetzt am Bahnhof und abends wieder eingesammelt mit dem Tages-"Verdienst", bandenmäßig organisiert. Soll man das unterstützen? Soll man es diesen Menschen gerade verweigern? Und dann kramt man doch in seiner Tasche und wirft etwas in den Becher - und geht weiter.

Auch im heutigen Predigttext geht es um dieses Thema.

Eine Szene wie gemalt. Jeder von uns kann sie ergänzen mit den aktuellen Bildern, die er im Kopf hat. Von Menschen, die betteln. In ihnen haben wir die, die im Abseits stehen, vor Augen. Und mit ihnen die Armut, die es auch in unserer Wohlstandsgesellschaft gibt und die man, wenn man sie sehen will, natürlich überall sehen kann. Und mit ihr Lethargie und Depressivität, die oft das beherrschende psychische Klima von Armut beschreiben. Hier in der Apostelgeschichte kommt noch hinzu: Dieser Bettler ist gelähmt, also körperlich versehrt und krank. Nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu bestreiten. Damit in der damaligen Zeit quasi verdammt zum Betteln.

Diese Situation steht am Anfang unseres Textes. Eine alltägliche Situation, damals, und nicht anders, wenn auch unter anderen Bedingungen, heute. Bettelnde sind eine Provokation und eine Herausforderung. Auf jeden Fall ein Thema, das man nicht einfach übersehen kann.

Offensichtlich auch für Petrus und Johannes, die auf dem Weg zum Tempel waren, um zu beten. Als sie an diesem gelähmten Mann vorbeikommen, bettelt er sie an. Und die beiden tun etwas Ungewöhnliches. Sie sehen weder weg noch holen sie ihren Geldbeutel raus, sondern sie sprechen ihn an: Sieh uns an!

Und dieser Mann reagiert zunächst genau so, wie er immer reagiert: in Erwartung eines Geldbetrages, der herüberwächst, schaut er Petrus und Johannes an und ist erstaunt: Da kommt kein Geld. Irritation. Was soll das?

Eine Musterunterbrechung, würde man im psychologischen Jargon sagen. Diese Begegnung verläuft ganz anders als er es erwartet hat. Sie verläuft wirklich von Angesicht zu Angesicht. Sie verlässt die Konvention. Sie sieht den anderen. Sie rechnet mit ihm. Sie erwartet etwas von ihm. Eine Antwort. Eigene Verantwortung. Einen Rollenwechsel. Sie erinnert mich an so viele irritierende Begegnungen, die Jesus mit Menschen gesucht hat:dem Kranken stellt er die zutiefst irritierende Frage: "Willst Du gesund werden?" Auf dem Weg nach Emmaus, obwohl er genau weiß, welche Geschichten die beiden Jünger umtreiben, sagt er: "Was sind das für Geschichten, die ihr euch da erzählt?" und fordert sie auf, es sich von der Seele zu reden, was sie beschwert." Der Ehebrecherin, die gesteinigt werden sollte und es völlig unverhofft, unbeschadet überlebt: "Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?"

Jesus geht hinein in die Begegnung. Geht hinein in den Konflikt. Geht hinein in die Auseinandersetzung. In das Leid, das er sieht, in die Scham, die er spürt, in die Gefahr, die lauert. In die wirkliche Begegnung mit einem Menschen und seiner Geschichte. Ein Kollege hat einmal sinngemäß gesagt: "Die Konfrontation gehört zum Gottesdienst. Darum gibt es im Eingangsbereich unserer Kirche keine Garderobe, wo wir das, was wir auf der Straße wahrnehmen und was wir selbst mitbringen an Lasten, Sorgen, Traurigkeit, Verzweiflung ablegen, weghängen können. Im Eingangsbereich der Kirche kommt es zur Begegnung zwischen den Widersprüchen unseres Lebens und der Guten Nachricht Gottes."

So auch hier:

Einer will Geld und erwartet, dass Johannes und Petrus es ihm geben. Stattdessen sagt Petrus: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!

Geld allein macht es offenbar nicht. Für diesen gelähmten Mann jedenfalls. Und im Grunde doch auch für jeden, der bei mir an der Tür steht und um ein paar Euros bittet, für den Obdachlosen auf der Straße mit seinem "Haste mal ne Mark!". Das ändert doch nichts, gar nichts an der grundsätzlichen Situation. Genau genommen verfestigt es diese eher. Es reicht wieder für ein paar Stunden vielleicht, grundsätzlich aber bleibt alles beim Alten. "Klappern gehört zum Handwerk", heißt es und genau das meint ja auch, dass es eine Gewohnheit geworden ist, ein Ersatz für etwas anderes, eine andere Art von Job.

Beides, zu wenig und genau so auch zu viel Geld kann Menschen lähmen. Weil es einen daran hindern kann, dem Elend wirklich auf den Grund zu gehen, die Ursachen aufzudecken und zu ihrer Beseitigung beizutragen. Es wird doch langfristig nichts anders durch den einen Euro im Becher oder durch den 5-Euro Gutschein, mit dem man in Geschäften Lebensmittel kaufen kann.

Der "Lahme bleibt lahm" - auch wenn sein Bettelbecher aktuell etwas voller ist. Almosen ändern doch nichts an der grundsätzlichen Situation. Sie tragen oftmals eher dazu bei, dass die Situation sich auf diesem "ungesunden" Niveau stabilisiert. Auch damit müssen wir uns wohl immer wieder auseinandersetzen, auch bei diesem Thema, mit den Folgen von dem, was wir tun. Das denke ich auch im Hinblick auf unsere diakonischen Angebote. Sie dürfen nicht zu kurz gesprungen sein. Es sollte um Schritte in Richtung "Heil-ung" gehen, nicht nur zur Fortsetzung der "kranken" Strukturen. Denn damit ändern wir gar nichts. Ich mache mir da nichts vor: das ist ein sehr großes Rad. Ich glaube trotzdem, dass wir die langfristigen Entwicklungen zum wirklich Besseren nicht aus den Augen verlieren dürfen und uns dafür einsetzen sollten, die zu spuren. Die erstaunlichen Worte des Petrus, die wir aufgrund unseres Wohlstandes (auch als Kirche) so ja gar nicht sagen könnten:

"Silber und Gold habe ich nicht",

sie sind der Anfang, der notwendig ist, um einen anderen Weg einzuschlagen. Um den Dingen auf den Grund zu gehen und sich nicht nur mit ein paar Cents selber zu beruhigen.

Petrus und Johannes wollen mehr als Almosen geben. Sie wollen den Lahmen aus seiner Abhängigkeit vom Betteln, aus der Abhängigkeit von den Gesunden und Starken befreien und ihm seine Würde zurückgeben. Sie sind bereit, ihm zu geben, was sie haben und was er braucht, jenseits von Silber und Gold:

Zutrauen, Zuwendung, Unterstützung. Statt gut gemeinter paternalistischer Almosen eine ernst gemeinte Unterstützung dabei, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und die Hoffnungslosigkeit loszulassen, die ihn in die Knie gezwungen hat: Im Namen Jesu Christi sage ich dir: Steh auf und geh umher!

Diese Geschichte hat ja mindestens zwei Ebenen. Die einer körperlichen Heilungsgeschichte in der Nachfolge Jesu. Und – so wie Jesus immer geheilt hat - eine, die sich um die Seele kümmert. Und diese "metaphorische" Ebene, die ist uns allen gesagt, die wir uns lähmen und in die Knie zwingen lassen von den "Gegebenheiten" dieser Welt und den Problemen, die wir auf unserem eigenen Teller liegen haben. Und die auch die Menschen haben, die betteln gehen, aus welchen bunten Gründen im Einzelnen auch immer. Wem das gesagt wird: "Steh auf und geh umher!", dem wird gesagt, was zur guten Botschaft, zum Evangelium Jesu Christi von Anfang an gehört hat und immer gehören wird: das Zutrauen und die Zumutung. Die Begabung und die Beanspruchung. Das ist viel mehr als ein Almosen, als ein Trostpflaster.

Steh auf und geh umher! das meint übertragen ja: Nimm es wieder in die eigene Hand, dein Leben. Hör auf, alle anderen schuldig zu sprechen an deiner Situation und dich so in ihr einzurichten und sie zu zementieren.

Fang wieder an, anzufangen! Fang noch mal neu an, was immer es dazu braucht und wen immer du dazu brauchst!

Mach den Entzug! Geh zur Beratungsstelle! Such dir einen Job! Hol den Abschluss nach! Geh auf den anderen wieder zu! Versuch's noch mal!

Lass dich zurückrufen in die Gemeinschaft. Du sollst wie alle anderen durch das schöne Tor in den Tempel ziehen dürfen! Lass dich erinnern an das, was du bist und kannst. Und mach was draus. Aus dem, was du bist und aus dem, was du kannst.

Natürlich – ich bin nicht naiv - ist das eine Strecke und ein Weg, der gegangen sein will. Und das ist nichts, was einer für alle tun kann und es bleibt ein aufreibendes Unterfangen. Manche Menschen wollen den Weg gar nicht mehr gehen. Sie bleiben lieber in dem wohlbekannten Elend als sich auf den mühsamen unbekannten neuen Weg zu machen. Natürlich sind manche Menschen schon so weit ab von all dem, dass es manchmal ein ganzes Hilfesystem braucht, wenn es gelingen soll, einem einzigen wirklich zu helfen. Mit diesem einen Satz ist es nicht getan. Es braucht Hilfe und es braucht Zuspruch, der anhält. Ich bin selber oft genug frustriert abgebogen, wenn ich den Eindruck hatte, manche trauen es sich gar nicht mehr zu, sich überhaupt noch ändern zu können. Ich glaube trotzdem: Es braucht immer wieder diesen Kontakt auf Augenhöhe, diese Begegnung von Angesicht zu Angesicht, dieses Wahren von Würde, die für viele bettelnde Menschen ungewohnte Erfahrung von: Ich bin etwas wert! Und es ist schon viel, finde ich, wenn dieser Blick gelingt und dieses Wort den andern erreicht. Und da bewirkt schon jeder Einzelne allein etwas. In jedem einzelnen Menschen, der ihm gegenüber steht.

Aber Hilfe darf, wenn sie wirklich Hilfe sein will und nicht nur für ein gutes Gefühl beim vermeintlichen Helfer sorgen soll, nicht dazu führen, dass Menschen sich einrichten in ihrer Unselbstständigkeit und der Abhängigkeit von anderen. Es geht nicht um bessere Bedingungen für's Betteln.

Heilung, Rettung ist vor allem ein Akt, in dem sich einer in seinem gewohnten Muster unterbrechen, wirklich berühren und neu beanspruchen lässt. Das schaffen Gold und Silber nicht und erst recht nicht der Groschen im Becher. Und machen wir uns nichts vor, das ist harte Arbeit und das erfordert ein langes Dranbleiben. Und doch ist jeder kleine Schritt, jeder Versuch, einem Menschen so, auf Augenhöhe zu begegnen, ein Schritt auf den Spuren Jesu.

Und genau darum geht es. Darum, dass Menschen wieder reingeholt werden in die Gemeinschaft. Darum, dass sie wieder einen Platz drinnen beziehen lernen und nicht außen vor bleiben. Darum, dass sie sich wieder ihrer selber bewusst zu werden und anzuknüpfen an jenes Bild Gottes in uns, das zu unserer Würde gehört und unser Geburtsrecht ist.

Der Gelähmte hat das so erlebt. Er hat die helfende Hand gesehen und sie ergriffen. Das gehört schon dazu. Und dann ist Petrus und Johannes nachgegangen in den Tempel, um Gott zu loben. Er ist ein anderer geworden über dieser Erfahrung, im wahrsten Sinne des Wortes. Ihm musste niemand sagen, wem er es zu verdanken hatte. Ihm musste niemand sagen, was er zu tun hatte. Er hat sein Leben wieder selbst in die Hand genommen, mit allem, was es auch von ihm danach verlangt haben wird. Aufrecht, gesehen und gesegnet. Jedes Wort, jeder Blick, der davon zeugt, folgt Jesus nach und geschieht in seinem Namen. Amen.

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