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9. Sonntag nach Trinitatis: Jer 1,4-10
9. Sonntag nach Trinitatis: Jer 1,4-10
# Archiv Predigten 2018
9. Sonntag nach Trinitatis: Jer 1,4-10
Liebe Gemeinde,
er hat nicht mehr als die eigene Gewissheit, dass Gott mit ihm ist. So mit ihm, so nahe, dass sich Worte in ihm formen, die ihm Worte Gottes sind. Er muss sie sagen, zitternd eher, denn selbstgewiss, leise und klagend eher, denn laut posaunend, anklagend, scharf und richtend, und doch mitfühlend und mitleidend. Und viel würde er geben, wenn er nicht reden müsste, wenn er von Gott schweigen dürfte. Zu groß scheint ihm sein Auftrag und zu mächtig die Realität gegen die er anreden soll. Er soll das Wort "Gott" in den Mund nehmen, soll sogar Mund des Wortes Gottes sein. Aber da sind auch die anderen, Priester, andere Propheten, Könige gar. Auch sie verkünden das Wort Gottes, auch sie erlassen im Namen Gottes Anweisungen und Gesetze, auch sie verurteilen und verdammen, strafen und reißen nieder – und sagen, es sei der Wille Gottes, ja Gottes eigenes Wort, Spruch des Herrn. Was Martin Buber zweitausendfünfhundert Jahre später schreiben sollte, galt schon zur Zeit des Jeremia für das Wort "Gott":
"Ja, es ist das beladenste aller Menschenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. Gerade deshalb darf ich darauf nicht verzichten. Die Geschlechter der Menschen haben die Last ihres geängstigten Lebens auf dieses Wort gewälzt und es zu Boden gedrückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter der Menschen mit ihren Religionsparteiungen haben das Wort zerrissen; sie haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur und ihrer aller Blut. Wo fände ich ein Wort, das ihm gliche, um das Höchste zu bezeichnen! Nähme ich den reinsten, funkelnsten Begriff aus der innersten Schatzkammer der Philosophen, ich könnte darin doch nur ein unverbindliches Gedankenbild einfangen, nicht aber die Gegenwart dessen, den ich meine, dessen, den die Geschlechter der Menschen mit ihrem ungeheuren Leben und Sterben verehrt und erniedrigt haben ..."
(M. Buber, Gottesfinsternis, zitiert bei H. Küng, Der Anfang aller Dinge, 121)
Jeremia konnte nicht verzichten auf Gott und sein Wort. Es war ihm das Höchste, er spürte sich in der Gegenwart dessen, den, wie Buber es sagt "den die Geschlechter der Menschen mit ihrem ungeheuren Leben und Sterben verehrt und erniedrigt haben ...". Am Anfang seines Wirkens, etwa in den Jahren um 625 vor Christus, erkennt Jeremia sich zum Propheten berufen. Er ist ein junger Mann, etwa 20 Jahre alt. Die politische Großwetterlage ist brisant, alle erwarten den Untergang des assyrischen Großreiches und gleichsam eine neue Heilszeit. Und dieser junge Mann sieht Untergang, zuerst von Norden her. Er stellt sich vor, all das Böse, das sein Volk vor allem mit der Anbetung der assyrischen Götter auf sich geladen hat, habe sich für eine Zeit in den Norden zurückgezogen und käme nun wieder auf sein Volk zurück. In der Tat wird es das im Norden gelegene Babylon sein, das später das Königreich Juda vernichten und große Teile seines Volkes in die Verbannung führen wird. Über 40 Jahre wird Jeremia das Schicksal seines Volkes begleiten – leidend an dem, was er zu sagen hat, Trost suchend und in manchen Teilen seiner Botschaft auch voll von Trost.
Das war sein Auftrag, denn so hatte er es für sich als Wort Gottes vernommen.
Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: "Ich bin zu jung", sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.
Wer nun Jeremia zu einem besonders begabten, hellseherischen und mit übernatürlicher Gabe für den Empfang der Stimme Gottes ausgestatteten Mann macht, der kann sich nun mit der zeitlichen Distanz von zweieinhalb Jahrtausenden und im Bewusstsein, leider nur ein normaler Mensch zu sein, zurücklehnen und Jeremia wie ein besonderes Einzelwesen der Glaubensgeschichte betrachten. Wer nun aber Jeremia als seinen Glaubensbruder ansieht, der wird erkennen, dass Gott auch heute mit uns nichts anderes vorhat, als damals mit Jeremia.
Denn Gott ist doch in dieser Welt und er teilt sich mit, auch heute. Er teilt sich mit als Geist, der das Herz eines Menschen brennen lässt, der das Gewissen eines Menschen bewegt und zum Reden und Handeln drängt, er teilt sich mit als Wachsamkeit, die Alarm rufen soll, wenn da etwas gegen Gottes Willen geschieht. "Dein Wille geschehe; dein Reich komme" – das ist nicht die Identifizierung dessen, was geschieht, mit dem Willen Gottes und erst Recht nicht die Gleichsetzung eines Gottesstaates mit dem Reich Gottes.
Und niemals darf ich sicher sein, dass Worte Gottes in meinem Munde liegen; ich kann nur hoffen, dass meine Worte – und seien sie Zitate aus der Bibel – ab und an zusammenfallen mit dem Willen Gottes – und dann nicht nur ausreißen und einreißen – den Hass aus dem Nährboden von Nationalismus und Rassismus zum Beispiel, sondern auch bauen und pflanzen – Hoffnung und Mitmenschlichkeit aufkeimen lassen.
Die Richtung weisen Worte von Daniel Barenboim, dem Chefdirigenten der Berliner Staatsoper. Der schreibt in der aktuellen Ausgabe der ZEIT (Nº 31 vom 26. Juli 2018, S. 35) von den Gründungsvätern Israels und deren Unabhängigkeitserklärung und zitiert sie:
Der Staat Israel "wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen." Und dann bringt er sein Entsetzen und seinen Scham über ein Nationalitätsgesetzt zum Ausdruck, das für ihn eindeutig eine "Form von Apartheid" ist.
Das ist prophetische Rede ganz im Sinne von Jeremia, des Propheten für die Völker – und nicht des Propheten eines Volkes, das immer zuerst zu kommen habe. Jüdischer und christlicher Glaube, wie er sich in den Schriften des ersten und zweiten Testaments der Bibel entwickelt, haben die Mitmenschlichkeit als von Gott gewollt entdeckt und nicht die Allein-Menschlichkeit eines Volkes, einer Nation, einer Religion. Wie nun lässt sich das verstehen, dieses "Und des Herrn Wort geschah zu mir"? Ich denke: Gott begegnet mir unter den Bedingungen des Menschseins: Geist teilt sich dem Geist mit, Liebe wird als Liebe empfangen, Vertrauen gebiert Vertrauen, Hoffnung verliebt sich ins Gelingen, Zutrauen lässt mutig werden, Menschsein wird groß, erhebt sich aus dem Staub, gewinnt ein Antlitz der Freundlichkeit und des Lächelns.
Und wer sich nun fragt "Wer oder was ist denn nun der Geist Gottes, oder der Heilige Geist?", dem möchte ich mit Hans Küng antworten: "niemand anderer als... Gott selbst, sofern er der Welt und dem Menschen nahe ist, ja, innerlich wird als die ergreifende, aber nicht greifbare Macht, als die lebensschaffende, aber auch richtende Kraft, als die schenkende, aber nicht verfügbare Gnade" (H. Küng, Der Anfang aller Dinge, 176).
Und Gnade war es und Gnade ist es, wenn ich, wie damals schließlich Jeremia, Folgendes als "Worte Gottes" höre und sie als mein Glaubensfundament verstehe:
"Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe", spricht der Herr: "Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung (Jer 29, 11)."
Ohne es begründen zu können, ohne irgendeinen Beweis, "spricht" hier Gott selbst für mich. Und es vertraut sich der unendliche große Gott, der Gott Abrahams, der Gott des jüdischen Volkes und auch der Muslime und auch der Christen, den Menschen an – mit seinen Gedanken des Friedens, die Hoffnung wirken und Zukunft eröffnen wollen. Und seither, seit jeher, gilt: Immer da, wo Friede aufscheint, wo Hoffnung anfängt zu pulsieren, wo Zukunft Farbe und Schönheit gewinnt, da sind Gottes Wille und sein Reich spürbar.
Gott hat uns seine Gedanken anvertraut, ja, er hat einen jeden von uns zu einem seiner guten Gedanken geschaffen. Was bewirken aber Gedanken gegen Realitäten? Sie verändern sie. So wie nur ein Gedanke an die Menschen, die ich liebe, mich lächeln machen kann, so kann ein jeder Gedanke Gottes eine Hoffnung mehr in diese Welt setzen und einen Tag mehr Zukunft eröffnen. Denn jede neue Hoffnung gibt einen Menschen weniger auf; und jeder Tag mehr hilft Zukunft bauen. Das ist das Aufbauen und Einpflanzen, zu dem Jeremia beauftragt wurde – und mit ihm eine jede und ein jeder von uns.
Mit Jeremia lerne ich: Gott teilt sich mit. Er legt in meine Verantwortung, was ich mache mit dieser Mit-Teilung. Ich kann mich an ihr vergehen, sie verfehlen, den Namen Gottes in den Staub treten. Ich kann von diesem Namen Gottes aber nicht schweigen. Ich bin einer seiner Gedanken. Mein Ort ist in Gott, nicht neben oder gar über ihm. Meine Freiheit ist gebunden an die Anerkennung eines Höheren, der es gut meint. Der immer noch ruft, für den es kein zu spät gibt. Von Gott her erschließen sich Zukunft und Hoffnung für uns und unsere Völker, für die ganze Schöpfung. Denn Gott "spricht":
"Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, das ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen (Jer 29, 11ff.)".
Amen.
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