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8. Sonntag nach Trinitatis: 1 Kor 6,9-14.18-20
8. Sonntag nach Trinitatis: 1 Kor 6,9-14.18-20
# Archiv Predigten 2018
8. Sonntag nach Trinitatis: 1 Kor 6,9-14.18-20
Liebe Gemeinde,
"alles ist erlaubt!", das könnte auch das Stichwort unserer Zeit sein, in gewissem Sinne die Überschrift über so viele atemberaubende Vorkommnisse, politische Inszenierungen und Machtdemonstrationen unserer Tage, dass es einem schaudern kann. Wie ungeniert und scheinbar unberührt von jeglichem Gewissen und Respekt vor dem, was man anrichten kann damit, gelogen und betrogen wird, wie gesellschaftsfähig es mittlerweile ist, Menschen wie Sachen zu behandeln und nur noch nach persönlichem Nutzen und Vorteil zu bewerten. Wie viel Menschlichkeit gerade unter die Räder machtpolitischer und egoistischer Interessen gerät.
"Alles ist erlaubt", so scheint es, wenn man sich menschliches Verhalten im Mikrokosmos unseres Alltags anguckt und manchmal entgeistert beobachten kann, was alles geht ohne jegliche Scham und jedes Bewusstsein für ein gutes Miteinander und was es dafür braucht an Umgangsformen und an Anstand. Wenn man im Straßenverkehr oder in der S-Bahn unterwegs ist, beim Bäcker ansteht oder sich aufmacht in den Urlaub. Was das eigene Verhalten für andere bedeutet, was es für unser aller Leben heißt, wenn so viele Menschen sich nur noch an sich selbst orientieren und an dem, was für sie ganz oben auf der Agenda steht, spielt für manche Menschen kaum noch eine Rolle.
"Alles ist erlaubt", den Eindruck muss man bekommen, wenn man sich anguckt, wo wir heute angekommen sind im Gefolge der notwendigen Aufstände gegen eine muffige und verklemmte Sexualmoral und Körperfeindlichkeit in den 60er Jahren. Heute ist scheinbar alles erlaubt und jede noch so scheue Nachfrage, ob denn wirklich alles gut ist, ob denn das alles wirklich Sinn macht, ob wir das wirklich so wollen, wirkt wie ein reaktionärer Angriff. Es wird fast gefeiert, dass es nichts mehr gibt, was es nicht gibt, dass alles erlaubt ist und es legitim ist, alles auszuleben. In Zeiten, in denen Prostitution nur ein Beruf wie andere auch ist, wo sexueller Libertinismus als Menschenrecht gehandelt zu werden scheint und Jugendliche mit frei verfügbaren Pornos im Internet aufwachsen und das, was sie dort sehen, für echt halten, für wahr, für normal, für angesagt. Und niemand fragt, was sie da lernen sollen für eine eigene lebendige liebevolle Sexualität, für ein sich einander anvertrauen, für sich einander hingeben und lieben lernen, wenn Sexualität auf Sex verkürzt wird.
"Alles ist erlaubt!", sagt Paulus seinen Korinthern in diesem Abschnitt des Briefes und eigentlich stutzt man doch, oder?! Alles ist erlaubt, meinst du das ernst, Paulus?
Wir müssen uns immer wieder klar machen, dass der Brief damals das Medium für Paulus war, um mit seinen Gemeinden in Kontakt zu bleiben. Er war die meiste Zeit auf Reisen und nur hin und wieder erreichte ihn eine Nachricht, eine Anfrage, der Bericht eines Menschen, der zu dieser Gemeinde gehörte und bildete die Grundlage für das, was wir heute in den Briefen des Neuen Testaments finden. Es sind Grundsatzfragen, die Paulus zu beantworten versucht. Fragen, die im Alltag der Menschen entstanden sind als Paulus, der Missionar der ersten Stunde, längst schon wieder unterwegs war. Fragen nach einer Praxis Pietatis, danach, wie wir diesen Glauben im Alltag leben können, was er da bedeutet. Wenn das Leben dazwischenkommt, sozusagen. Wie im richtigen Leben. Wie bei uns, wenn es darum geht, wie das, was wir glauben, sich konkret auswirkt in den Herausforderungen, vor die das Leben uns konkret stellt. Und so sprechen die Briefe fast immer in ganz konkrete Situationen hinein und versuchen, das Evangelium ins Detail zu bringen, das große Wort Gottes in die kleine Münze der Nicklichkeiten des Lebens miteinander zu tauschen. So auch hier. Korinth, diese damals große und multireligiösen Stadt, die geprägt war von der gängigen Auffassung, dass Leib und Seele zwei komplett voneinander zu trennende Größen seien. Man konnte sich elitär philosophischen Fragen, religiösen Studien hingeben und zur gleichen Zeit im Umgang mit sich selbst und seinen Körper handeln als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun. Korinth hatte natürlich seine Herbertstraße und seine Reeperbahn und vermutlich nicht nur eine. In Korinth war es durchaus üblich, sich als religiös gebundenen Menschen zu verstehen und überhaupt kein Problem damit zu haben, z.B. zu den Prostituierten jeglicher Couleur zu gehen. So what? Da stehen wir drüber. Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.
Wenn Paulus hier in diesem sogenannten Lasterkatalog "Unzüchtige, Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber" aufführt, dann geht es ihm nicht darum, mit dem Finger zu zeigen, sondern darum, dass die Korinther erkennen – und wir mit ihnen-, so einfach könnt ihr es euch nicht machen. Glaubt nicht, das eine hätte mit dem anderen nichts zu tun und es sei einfach nur Ausdruck eurer Freiheit, Euch zu benehmen wie die Axt im Walde. Auch ihr, meine lieben Korinther, auch wir sind immer wieder in Gefahr, uns zu verfehlen gegen das, was uns "eigentlich" heilig sein sollte.
Und hier - wie an anderer Stelle auch - betont Paulus einmal mehr: alles hängt mit allem zusammen. Du kannst nicht das eine glauben und das andere tun. Du kannst nicht einerseits Gerechtigkeit für dich erbitten und Gott dafür preisen, sie aber im gleichen Atemzug anderen verweigern. Du kannst nicht glauben, dass Gott dich geschaffen hat und liebt und gleichzeitig den Nächsten neben dir behandeln als gälten für ihn leider andere Gesetze. Du kannst nicht jemanden benutzen und ausbeuten und so tun, es hätte keine Auswirkungen auf deinen Glauben und auf dich selbst.
Darum: "Lasst euch nicht irreführen!", sagt Paulus.
Alles ist mir erlaubt, ja! Aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, ja! Aber es soll mich nichts gefangen nehmen.
Dies ist der zweite Pflock, den er einschlägt. Aber erst, nachdem der erste klar ist. Ja, es stimmt: alles ist erlaubt! Alles! Es geht nicht um den kleinen Katalog, es geht nicht um die verklemmte Moral, es geht nicht um kleinliche Einhaltung von Gesetzen. Es geht nicht zurück in die verquaste Zeit der Leibfeindlichkeit und der bürgerlich-kleinkarierten Moral, unter der viele Menschen so sehr gelitten haben.
Es geht darum, den Sinn von Gottes Gesetz zu begreifen und sich der Aufgabe zu stellen, diesen tieferen Sinn des Gesetzes umzusetzen. Wie überheblich haben wir Christen so oft dem Judentum die Gesetzlichkeit vorgeworfen und hielten uns für ach so aufgeklärt. Dieser Vorwurf ist so unzutreffend wie ungebildet. Die Thora Gottes, die gute Weisung Gottes für unser Leben, genau sie ist die Richtschnur, die uns Menschen Orientierung gibt und unserem Glauben Gestalt. Der nicht nur im Kopf stattfinden soll, sondern auch in unserem Alltag. Der nicht nur unsere Gedanken bestimmen soll, sondern auch unserem Leib ein Zuhause, unserem Herzen eine Heimat geben soll. Es kommt auf den Geist an, der sie treibt, darauf, ob wir – in allen Religionen, übrigens- unsere hermeneutischen Hausaufgaben machen. Die jüdische Tradition kennt die Unterscheidung zwischen dem Buchstaben der Thora, dem "schwarzen Feuer" und dem Leerraum zwischen den Buchstaben und um sie herum, dem "weißen Feuer". Erst beide zusammen – der wörtliche Sinn und der Freiraum für Interpretation, für eigenes Denken und das Unsagbare – bilden die Grundlage des Glaubens. Uns ist viel mehr Freiheit zugetraut und auch zugemutet als wir gemeinhin glauben und anzunehmen bereit sind.
Wenn uns das einmal wirklich klar geworden ist, dann wird der nächste Ankerpunkt, den Paulus setzt, erkennbar: Ihr seid nicht freigekauft worden sind, um euch an der nächsten Ecken wieder neu versklaven zu lassen, ohne es zu merken. Macht doch eure Hausaufgaben! Ihr seid teuer erkauft, damit ihr frei kommt aus den Abhängigkeiten dieser Welt. Bleibt frei! Und das heißt: indem ihr in der Freiheit, die euch gegeben und zugemutet wird, Verantwortung übernehmt für alles, was ihr tut und sagt. Damit es dem entspricht, was Gott er euch geschenkt hat: Liebe, Freiheit nicht nur von etwas, sondern auch für etwas, nämlich dafür, ihn zu spiegeln in dieser Welt, wirkliche Freiheit, wirkliche Gerechtigkeit, Shalom. Dafür müsst ihr darum wissen und davon leben. Dafür dürft ihr euch nicht dauernd selbst bespiegeln, sondern müsst euren Spiegel in Körper, Geist und Seele putzen, damit er Gott möglichst rein reflektiert. Seine Liebe. Seine Gerechtigkeit. Sein Erbarmen. Ihr seid teuer frei gekauft von allem Drehen um euch selbst. Ihr gehört euch nicht mehr. Ihr sollt ihn spiegeln.
Fulbert Steffensky hat das so wunderbar gesagt:
"Was wird aus dem Menschen, wenn seine Leidenschaften verkümmern zu Liebesaffären mit sich selbst; wenn nicht mehr zu lieben ist als das eigene Spiegelbild; wenn es keine andere Identität gibt als die mit sich selber? Wie kärglich, wenn das Verlangen des Menschen nicht mehr als Selbstversessenheit ist; wenn man sich im Spiegel schauend selber schön finden muss! Dies ist nicht nur kärglich. Es saugt auch die Phantasie für das Unglück der anderen auf. In dieser Selbstprovinzialisierung verlernt man menschheitlich zu denken. [...] Ich [...] erinnere mich an Jesu andauernde Grenzverletzungen, die aus seiner Güte geboren sind. Angst- und Herrschaftsideologien haben ein höchstes Interesse an festen, erkennbaren und unüberschreitbaren Grenzen. Die Grenzen zwischen Männern und Frauen, zwischen Sündern und Gerechten, zwischen Reinen und Unreinen, zwischen Rechtgläubigen und Ungläubigen sollen gewahrt werden. Grenzen scheinen so etwas wie Sinnprothesen zu sein. [...] Einer der charmantesten Züge Jesu ist sein Freimut. Er isst und trinkt mit Sündern und Zöllnern und missachtet die Grenzen, die die Religion aufstellt. [...] Zu seinem Mahl werden die von den Hecken und Zäunen gerufen, und die Nicht-Dazugehörigen werden zu Einheimischen. [...] Die größte Grenzverletzung ist seine eigene Existenz: Der Sohn des Lichts birgt sich in unser Schicksal – Gott wird Menschen. Er verbirgt sich so in unsere eigene Existenz, dass er sagen kann: Der Hungrige, den ihr gespeist habt, war ich. Der Nackte, dem ihr Kleider gegeben habt, war ich. Der Gefangene, den ihr besucht habt, war ich selbst. [...] Die Liebe finden sich nicht mit Trennungen ab. Diese Grenzverletzungen, die Jesus schließlich in den Tod bringen, sind keine Willkür, sie gehören zum Wesen seiner Liebe. Bei diesen Grenzverletzungen wird niemand Opfer. Sie sind Wege in die Freiheit und ins Heil", schreibt Fulbert Steffensky in seinem Plädoyer für einen leidenschaftlichen Gott und das Christentum als Liebesreligion (Sdg. am 14.8.11)
In einer alten chassidischen Geschichte heißt es: "Woran erkennen wir wohl", fragte Rabbi Bunam seine Schüler, "in diesem Zeitalter ohne Propheten, wann uns eine Sünde vergeben ist?" Die Schüler gaben mancherlei Antwort, aber keine gefiel dem Rabbi. "Wir erkennen es", sagte er, "daran, dass wir die Sünde nicht mehr tun.." M. Buber. Die Erzählungen der Chassidim. 1987. S. 751
Alles ist uns erlaubt. Aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist uns erlaubt, aber nichts soll uns wieder gefangen nehmen. Weil wir frei sein sollen, um Gott zu spiegeln, um sein Versteck in dieser Welt zu werden und so sein Licht unter uns und auf dieser Welt leuchten zu lassen. Amen.
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