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Reminiszere: Jes 5,1-7
Reminiszere: Jes 5,1-7
# Archiv Predigten 2018
Reminiszere: Jes 5,1-7
Liebe Gemeinde,
er hat nicht mehr als die eigene Gewissheit, dass Gott mit ihm ist. So mit ihm, so nahe, dass sich Worte in ihm formen, die ihm Worte Gottes sind. Er muss sie sagen, zitternd eher denn selbstgewiss, leise und klagend eher denn laut posaunend, anklagend, scharf und richtend, und doch mitfühlend und mitleidend. Und viel würde er geben, wenn er nicht reden müsste, wenn er von Gott schweigen dürfte. Zu groß scheint ihm sein Auftrag und zu mächtig die Realität gegen die er anreden soll. Er soll das Wort "Gott" in den Mund nehmen, soll sogar Mund des Wortes Gottes sein. Aber da sind auch die anderen, Priester, andere Propheten, Könige gar. Auch sie verkünden das Wort Gottes, auch sie erlassen im Namen Gottes Anweisungen und Gesetze, auch sie verurteilen und verdammen, strafen und reißen nieder – und sagen, es sei der Wille Gottes, ja Gottes eigenes Wort, Spruch des Herrn.
Was Martin Buber zweitausendfünfhundert Jahre später schreiben sollte, galt schon zur Zeit des Jesaja für das Wort "Gott":
"Ja, es ist das beladenste aller Menschenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. Gerade deshalb darf ich darauf nicht verzichten. Die Geschlechter der Menschen haben die Last ihres geängstigten Lebens auf dieses Wort gewälzt und es zu Boden gedrückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter der Menschen mit ihren Religionsparteiungen haben das Wort zerrissen; sie haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur und ihrer aller Blut. Wo fände ich ein Wort, das ihm gliche, um das Höchste zu bezeichnen! Nähme ich den reinsten, funkelnsten Begriff aus der innersten Schatzkammer der Philosophen, ich könnte darin doch nur ein unverbindliches Gedankenbild einfangen, nicht aber die Gegenwart dessen, den ich meine, dessen, den die Geschlechter der Menschen mit ihrem ungeheuren Leben und Sterben verehrt und erniedrigt haben ..." (M. Buber, "Gottesfinsternis", zitiert bei H. Küng, Der Anfang aller Dinge, 121).
Jesaja konnte nicht verzichten auf Gott und sein Wort. Es war ihm das Höchste, er spürte sich in der Gegenwart dessen, den, wie Buber es sagt "den die Geschlechter der Menschen mit ihrem ungeheuren Leben und Sterben verehrt und erniedrigt haben ...". Und so redet er, poetisch und drastisch, trägt sein Weinberg-Lied vor:
Wohlan, ich will von meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte.
Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte? Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er kahl gefressen werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen.
Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.
Jesaja klagt an, Und das Recht, dessen Fehlen er feststellt, ist keine abstrakte Gerechtigkeit, sondern ganz konkret das Recht der Witwen und Waisen, das ihnen von bestechlichen Beamten vorenthalten wird, und das Recht der Elenden des Volkes, das ihnen per Verordnung oder Erpressung geraubt wird. Das "Geschrei über Schlechtigkeit" ist kein Lamentieren von "Gutmenschen", sondern vielmehr das Schreien der Opfer selbst: der Fronarbeiter über unmenschliche Belastungen, der bedrückten Fremden oder des Schuldners, dem sein Pfand nicht zurückgegeben wird.
Nun, wir gehören nicht zum Haus Israel, sind nicht die Frauen und Männer Judas. Das Wort Jesajas kann uns nicht meinen, nicht wahr? Wann aber trifft mich ein Wort der Bibel? Nur dann, wenn von Liebe, Schönheit, Friede, Freude die Rede ist? Oder nicht auch dann schon, wenn ich mich persönlich, wir uns als Gemeinde einsetzen mit Wort und Tat für die Menschen, für die Jesaja eintritt – für die Unterdrückten, Entrechteten, Armen, Bedrohten. Dann treffen mich Worte der Bibel – hilfreich und trösten, ermutigend und wegweisend aber auch in Frage stellend.
Jesaja ist als Prophet keiner, der voraussagt, sondern einer, der hervor sagt. Er sieht den Zustand seiner Gesellschaft und sieht aus ihr hervorkommen den Untergang, die Vernichtung. Und weil er gar keinen anderen Deutehorizont hat als den des göttlichen Willens und des Wirkens Gottes in der Geschichte, lässt er seine Worte Gottes Worte sein und seine Hervorsagen Gottes Strafe. Die Bedingungen der Möglichkeit einer gerechten Gesellschaft und eines gottgefälligen Lebens hatte doch Gott, der Weingärtner gegeben. Es war doch alles geregelt, für alles gesorgt. Gottes "Herz" hing daran. Und es verkehrt sich alles in sein Gegenteil.
Und was als Gottes Reaktion auf die Verletzung der gottgesetzten Rechtsordnungen beschreiben wird, ist aus menschlicher Perspektive der Zusammenbruch der Werte und Maßstäbe, die eine Gesellschaft zusammenhalten, ohne dass die Gesellschaft sie einklagen könnte. In Psalm 85 heißt es, Güte und Treue begegnen einander, Friede und Gerechtigkeit küssen sich. Güte und Treue stehen nicht im Gesetzbuch und der schönste Kuss der Bibel auch nicht. Humanität und Solidarität, Ehrfurcht vor jedem Leben, Wahrhaftigkeit, Fairness und Partnerschaftlichkeit sind schon jetzt und schon lange die Werte und Normen, auf die sich alle Religionen einigen können. Nur müssen sie auch gelebt werden und vorher: gelernt werden. Wo das nicht geschieht, zerfällt eine Gemeinschaft, ein Land, eine Welt.
In der aktuellen ZEIT findet sich im Hamburg-Teil ein Brief der Autorin Charlotte Parnack an ihre ehemalige Klassenlehrerin an der katholischen Sophienschule, die nun geschlossen werden soll. Darin heißt es: "Erst heute fällt mir auf, wie viele Schüler dort jeden Pisa-Test gesprengt hätten, wie viele in ärmlichen Verhältnissen groß geworden sind, wie viele kaum Deutsch gesprochen haben. Wie viele auf anderen Schulen versagt und nach dem Wechsel an die katholische Schule Fuß gefasst haben. Wie viele von uns zwischenzeitlich getragen werden mussten. Von Ihnen lernten wir, wie das geht: jemanden zu tragen, wenn man gerade etwas Kraft übrig hat. Sie hatten, so wirkte es auf mich, immer Kraft übrig. Sie trugen uns, Sie ertrugen uns, und Sie brachten uns bei, dass das selbstverständlich ist. Ich schätze, wir ahnten schon damals, dass das nicht pädagogischer Ehrgeiz war, sondern Nächstenliebe. … Aus uns sind Menschen geworden, die gelernt haben, an etwas zu glauben" (ZEIT Hamburg, 22. Februar 2018, 1).
Es wird der Dienst unserer Gemeinde bleiben müssen, Lernort für Nächstenliebe zu sein – für die Jungen, wie für die Alten. Dann wird sie nicht brach und wüst liegen, sondern blühen und gute Frucht bringen. Amen.
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