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Estomihi: Lk 10, 38-42
Estomihi: Lk 10, 38-42
# Archiv Predigten 2017
Estomihi: Lk 10, 38-42
Liebe Gemeinde,
Maria hat gewählt. Sie hat sich dazu die Freiheit genommen und ist zur Hörenden geworden, zur Lauschenden, wie wir sie hier neben der Kanzel sehen – als jenen Trost eines jeden, der hier oben steht: eine hört garantiert zu... Hat Marta auch gewählt oder hat sie sich gefügt?
Marta und Maria: haben wir da zwei Frauentypen vor uns, die konservative und die emanzipierte? Da ist Marta, die Hausfrau, die sich kümmert, die sich sorgt, die alles tut, damit ihr Gast die Gastfreundschaft erlebt, die ihm zusteht. Sie macht, was von ihr verlangt wird. Sie fügt sich in eine ihr von der Gesellschaft zugewiesene Rolle. Und die ist eine niedrige: in den strengen Regeln der Gastfreundschaft, die die Antike kannte, ist der Bediener der jeweils sozial am niedrigsten Stehende, also entweder ein Sklave, oder die Tochter des Hauses, oder die Frau oder der Sohn. In diesem Falle Marta, die Frau. Sie lebt in einer Gesellschaft, in der die Schriftgelehrten nach dem Grundsatz handelten "Rede nicht viel mit einer Frau", in der die Rabbinen die Tora nicht vor Frauen auslegten, denn sie galten religiös als zeitrangig, in der schließlich ein frommer Jude täglich als einen von drei erforderlichen Lobsprüchen betete: "Gepriesen sei, der mich nicht als Frau geschaffen hat". Gefangen in dieser sozialen Rolle, begehrt sie doch dagegen auf, indem sie sich bei Jesus über ihre Schwester beschwert: "Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!" Ein direktes Wort an die Schwester ist ihr schon nicht mehr möglich, nein, Jesus soll seiner Rolle als Mann gefälligst gerecht werden und Maria zurechtweisen.
Denn die hat sich anscheinend völlig vergessen: sie schert sich nicht um ihre Rolle als Frau, sie macht sich selbst zu einer Schülerin von Jesus, sitzt ihm zu Füßen und hört ihm zu, so wie ein Jünger seinem Rabbi zuhört. Da werden sich auch die Jünger Jesu gewundert haben, die sehr wahrscheinlich auch mit bei Marta und Maria zu Gast waren. Maria sieht in Jesus offensichtlich einen Menschen, der die Frauen und auch Männer nicht mehr auf ihre sozialen Rollen festlegt, sondern beide in einem unmittelbaren Verhältnis zu sich selbst und damit zu Gott sieht. So hätten wir denn hier die Geschichte zum revolutionären Satz des Paulus, der an die Galater schreibt: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus" (Gal 3, 28). Revolutionär, weil er damals die Grundlagen der antiken Gesellschaft in Frage stellte und es heute, wenn wir an die sozialen Rollen selbst innerhalb unserer Gesellschaft denken, tun kann.
Die Gemeinde Jesu als eine Gemeinschaft, die sich über soziale Grenzen und Rollen hinweg als eine versteht, weil Jesus Hierarchie und Herrschaft der einen über die anderen ablehnt und nur einem folgt: dem Doppelgebot der Liebe: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst" (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). Keine Neuerfindung der christlichen Gemeinde, kein Sondergut des Neuen Testaments, sondern jüdische Grundüberzeugung des Juden Jesus.
Und von diesem Doppelgebot her hat der Evangelist Lukas der Geschichte von Maria und Marta ihren Platz in seinem Evangelium gegeben: zwischen der Geschichte vom barmherzigen Samariter, die auf die Frage antwortet, wer denn mein Nächster sei, den ich zu lieben habe, und dem Vaterunser, das auf die Frage der Jünger Antwort gibt, wie denn zu Gott zu beten sei. Hier, zwischen tätiger Liebe und dem Gebet steht die Geschichte von Marta und Maria als ein Bindeglied.
Und wie bei der Geschichte vom barmherzigen Samariter, geht es auch jetzt um die Frage nach dem richtigen Handeln zum richtigen Zeitpunkt, nicht mehr nur um ein Rollenverständnis oder einen Frauentyp. Eins ist Not und manchmal wirklich nur eines, und das gilt es zu erkennen: mal ist Handeln und Zupacken das einzig Richtige, wie es der Samariter tut. Aber genauso gibt es Zeiten, in denen es wichtig ist zu lassen. "Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist Not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden." Da ist kein Vorwurf, da ist Verständnis: "Ich sehe Deine Mühe, Marta, ich sehe, wie du gefangen bist in deinem Alltag, so sehr, dass du nicht mehr erkennen kannst, was jetzt Not tut". Jesus gibt Marta die Freiheit, sich für das Richtige zu entscheiden, gibt ihr den Raum für diese Freiheit. Und mit Marta gibt Jesus diese Freiheit jedem Menschen: er darf und muss manchmal die arbeitende, sich mühende Marta sein, darf und muss manchmal aber auch Maria sein, die, die lässt. Es gibt gewiss Zeiten, da muss der Alltag herrschen, da sind Pflichten zu erfüllen, es gibt auch Zeiten, da der Zwang zu Funktionieren so groß ist, dass ich nichts anderes mehr sehe. Und dann muss ich mich unterbrechen lassen. Diesen manchmal so kleinen Raum der Freiheit hat Gott uns geschenkt und wir sollen ihn wählen. Keine Frau und auch kein Mann, ist allein für den Alltag gemacht. Kein Mensch ist gemacht, um zu funktionieren. Gott schenkt uns die Freiheit zu entscheiden, was im jeweiligen Moment dran ist. Gott hält einen Raum der Unterbrechung für uns bereit. Der Theologe Johannes Baptist Metz hat Religion als Unterbrechung beschrieben. Das mag einfach klingen: nach Ablenkung, nach einer Zigarette zwischendurch. So ist es nicht gemeint. Eine Unterbrechung wie sie zwischen Jesus und Maria geschieht, ist keine Plauderei und eine Meditation zur Selbstfindung oder Ganzheitlichkeit auch nicht. Hier gescheiht eine Unterbrechung des Faktischen, des Gegebenen und sie kann auch irritierend sein. Dafür steht Marta auch. Unterbrechung durch Jesus bedeutet auch, sich nicht versöhnen zu wollen mit einer gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation, die nur für eine kleine Minderheit angenehm ist, für die Mehrheit aber Ungerechtigkeit und Unterdrückung, Zwang und Funktionieren bedeutet. Vielleicht will ich mich gar nicht so gern von Jesus unterbrechen lassen. Unterbrechung im betenden Lauschen auf Jesu Botschaft stellt mich in Frage und drängt auf Veränderung der Verhältnisse. Wer als Christ betet, so schärft uns Johann Baptist Metz ein, "macht die Leiden und Katastrophen der Anderen zum Stoff der eigenen Anbetung, einer Anbetung, in der das Lob nicht ohne Klage sein kann, der Dank nicht ohne Trauer und der Gesang nicht ohne Geschrei. So aber hören sich die Gebete an in den Urschriften des Glaubens, so werden die Gebete von morgen sein oder sie werden nicht mehr sein. "(…) Wer 'Gott' sagt, nimmt die Verletzung der eigenen Gewissheiten durch das Unglück der Anderen in Kauf" (J. B. Metz, Mystik der offenen Augen, 54-55).
Und Maria lässt sich unterbrechen, entscheidet sich für das Setzen, für das Hören.
Anerkennen, von wem ich mir etwas sagen lassen will, wem ich zuhören will, wie ein Jünger hört, auch heute noch. Zu Füßen Jesu sitzen und hören, auch heute noch. Seinen Platz finden, sich etwas sagen lassen, Worte nachklingen lassen, sie in mich hinein verfolgen, auch heute noch.
Maria gewinnt Distanz, kann neu und aus anderen Perspektive auf ihr Leben schauen: Was sagt Jesus dazu, wie ich lebe, agiere funktioniere, denke und fühle? Wessen Hand hält mich und wem kann ich mich anvertrauen? Wo bin ich zu Hause? Für wen bin ich wichtig? Wem gebe ich Halt und wer verlässt sich auf mich? Wer schenkt mir sein Vertrauen und öffnet mir sein Herz? Wer ist durch die Begegnung mit mir glücklicher, befreiter, erlöster geworden?
Ich fand den Spruch von Karl Valentin: "Heute Abend besuche ich mich. Mal schauen, ob ich zu Hause bin." Dass ich selbst bei mir gar nicht zu Hause bin, sondern mich in meinem eigenen Hause fühle wie ein Fremdkörper, wie ein Sklave oder eine Bedienstete, ist eine nur allzu realistische Möglichkeit und eine Erfahrung vieler Menschen.
Aber es ist da eine Stimme, liebe Gemeinde, die kann ich vernehmen in der Unterbrechung, in jenem manchmal so kleinen Raum der Freiheit, die wir Jesu Meinung nach von Gott her haben. Es mag die Tageslosung sein, der Blick in den Himmel, es mag ein Gesang sein, eine Stille, eine Gebet – so viele Möglichkeiten, sich von Gott unterbrechen zu lassen - und ich höre, wie ein Jünger hört. Und – er spricht wie an dem Tage, da er die Welt erschuf. Da schweigen Angst und Klage, nichts gilt mehr als sein Ruf. Das Wort der ew'gen Treue, die Gott uns Menschen schwört, erfahre ich aufs Neue, so, wie ein Jünger hört.
Amen.
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