02/07/2024 0 Kommentare
4. Sonntag nach Trinitatis: Röm 14,10-13
4. Sonntag nach Trinitatis: Röm 14,10-13
# Archiv Predigten 2016
4. Sonntag nach Trinitatis: Röm 14,10-13
Predigt über Römer 14, 10-13
Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): "So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen." 12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Liebe Gemeinde!
Gehen wir von dem Zeitpunkt, an dem Paulus diesen Brief schreibt, ein paar Jahrzehnte zurück. Paulus heißt, wenn man der Apostelgeschichte Glauben schenkt, gemäß seiner Herkunft noch Saulus. Er ist Jude. Geboren in Tarsus, einer Stadt an der Mittelmeerküste der heutigen Türkei. Und er ist das, was man einen getriebenen Eiferer für das Gesetz nennen kann. Sein Glaube und sein Gesetzeseifer machen ihn zu einem kompromisslosen Verfolger jener Jesus-Anhänger, einer kleinen neuen Bewegung aus dem Judentum, die das Judentum neu auslegen: weiter, liberaler, öffnender, einladend und verbindend, ganz im Sinne Jesu – die es dabei aber an jener Gesetzesstrenge und -treue fehlen lassen, die für Saulus so unverzichtbar ist. So scheut er nicht davor zurück, jene ersten Christen zu verfolgen, viele von ihnen anzuklagen - und manche schließlich zum Tode verurteilen zu lassen.
Saulus war ein Fundamentalist. Er richtet andere und über andere. Hält seinen Glauben für den einzig Wahren. Saulus ist einer von jenen, die Religionen in Misskredit bringen, weil sie im Namen einer Religion oder im Namen Gottes selbst herrschen und sich dabei über jedes Gewissen und über jeden Zweifel hinwegsetzen.
Dann aber passiert Erstaunliches: Aus dem hartherzigen Saulus wird der Apostel der Völker. Vor den Toren von Damaskus trifft er in einer Vision auf Jesus. Er wird bekehrt, aus Saulus wird Paulus, der erste scharf und präzise denkende Theologe des Christentums, einer, der die Weisheit des Kreuzes predigt, einer, der sagt, dass man in der Schwachheit erst zu wahrer Stärke findet. Einer, der für seinen "neuen" Glauben selber häufig ins Gefängnis geworfen wird, der Entbehrungen und Folter erträgt und am Ende hingerichtet wird.
Dass dieser radikale Wandel unter den ersten Christengemeinden Irritationen auslöste, erwähnt Paulus selber im Galaterbrief: Der uns früher verfolgte, sagen viele aus jene Gemeinden, der predigt jetzt den Glauben, den er früher zu zerstören suchte.
Und nun schreibt eben dieser Paulus – gut 25 Jahre nach seiner Bekehrung – in einem Brief an die Gemeinde in Rom, dass man sich doch besser nicht zum Richter über andere Menschen macht. Er verweist nicht direkt, aber doch – erahnbar für alle – auf sein eigenes Leben. Mit all seinen Facetten und Fragmenten. An anderen Stellen erwähnt er deutlicher immer mal wieder seine Vergangenheit. Er verheimlicht keine Schuld, er bekennt sich zu seinem falschen Eifer und stellt sich dem Unrecht, das er tat.
Und irgendetwas in ihm brachte unzählige Menschen dazu, ihm zu glauben. Ihn nicht zu verurteilen und ihn nicht zu messen an Vergangenem, sondern sich überzeugen zu lassen, von dem, was er predigte. Darin war er echt und kompromisslos ehrlich. Ich glaube, ihm gelang dieser ehrliche und klare Blick auch auf die Schattenseiten seines Lebens, auf Irrwege, der er gegangen ist, weil so ein Blick dem biblischen Glauben und der jüdisch-christlichen Tradition tief eingepflanzt ist. Wir finden dies bei nahezu allen großen biblischen Figuren. Jakob hat seinen Bruder Esau betrogen und wurde dennoch von Gott gesegnet, wurde Stammvater und Namensgeber Israels – nachdem er einen langen Weg – auch zu sich selbst – zurückgelegt hat. David, der Dichter der Psalmen, der König Israels, schickt einen getreuen Soldaten in den sicheren Tod, weil er dessen Frau begehrt. Und der Prophet Nathan stellt David drohend zur Rede. Petrus hat Jesus verleugnet, in jener Nacht, aus Angst, er könne selber verhaftet werden. Und der Auferstandene zeigt ihm dann später am See Genezareth seine vergebende Liebe.
Der biblische Glaube und die jüdisch-christliche Tradition versuchen nicht zu verbergen, was auch an Schattenseiten, an Dunklem zum Menschsein dazugehört. Und zwar deswegen nicht, weil Gott selbst Licht in diese Dunkelheit bringt, weil Gott selbst das, was die Bibel Sünde nennt, vergibt.
"Wären eure Sünden auch rot wie Scharlach" sagt Gott durch den Propheten Jesaja, sie sollen weiß werden wie Schnee. Wären sie rot wie Purpur, sie sollen weiß werden wie Wolle."
Paulus ist mit seinem Leben ein Beispiel dafür, welche Kraft diese Vergebung freisetzen kann, welche Dynamik und Leidenschaft sie entwickelt.
Diese Kraft von Gottes Vergebung verändert den Blick auf das Leben und auf die Menschen. Sie ist der große Gleichmacher unter den Menschen. Denn da wird nicht mehr unterschieden.
"...ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus", schreibt Paulus im Galaterbrief. "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus."
Das ist die große Zumutung unseres Glaubens. Und das ist, was Paulus meint, wenn er schreibt:
"Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder (oder seiner Schwester) einen Anstoß oder Ärgernis bereite."
Wir handeln an dieser Stelle nicht aus Sympathie, nicht aus Freundschaft, nicht aus Höflichkeit, wir handeln, weil es etwas Gleiches im anderen gibt. Ein gleiches Angesehenwerden von Gott. Eine gleiche Ebenbildlichkeit Gottes im Menschen. Eine gleiche Würde. Und das Maß dieser Würde legen nicht wir fest mit unseren subjektiven Kriterien, nicht mit einer Art innerem Parlament von unterschiedlichsten Werten, die heute mal so und morgen dann anders entscheiden.
Vielmehr ist genau dies der entscheidende Beitrag der Religionen für das Zusammenleben der Menschen: Dieses Maß für die Würde aller Menschen liegt bei Gott. Daran wird es gemessen. Und deswegen schreibt Paulus:
"So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben."
Das ist die große Zumutung unseres Glaubens.
Mir ist diese Herausforderung unserer jüdisch-christlichen Tradition noch einmal mehr deutlich geworden, als ich ich vor kurzem mit einer Oberstufengruppe in Indien gewesen bin. Das Christentum bildet in Indien eine verschwindend kleine Minderheit. Und doch richten insbesondere viele christliche Gruppen ihren Blick auf die schmerzhaften Wunden der indischen Gesellschaft. Dieser besonderer Blick ist ein urchristlicher Wesenszug und tief in der Tradition von Jesus verwurzelt. Das ist die Zumutung von Gleichheit und Gerechtigkeit.
In Indien nennen die Christen das Kastenwesen eine einzig große Sünde, sie sprechen Erbsünde, weil Menschen aufgrund ihrer Geburt brutal diskriminiert werden. Genauso nennen Sie aber auch die globale Wirtschaft ein System der Sünde, weil dieses System Armut produziert. Davon haben wir in Indien viel gesehen.
Als wir nach Deutschland zurück kamen, war für mich eine der deutlichsten Fragen, warum von den gut 7 Milliarden Menschen auf unserer Erde, wohl etwa 6 einhalb Milliarden Menschen weit entfernt sind von einem Wohlstand, wie wir ihn leben.
Das sind keine Entwicklungsverzögerungen, das sind kalkulierte Ungerechtigkeiten. Das ist Unrecht auf das wir Antworten finden müssen.
Lassen wir uns anfragen, lassen wir uns hinterfragen von unserem Glauben. Dieser Glaube fordert für jeden Menschen das gleiche Recht auf dieselbe Würde.
Ein Mann in Indien hat uns in besonderer Weise beeindruckt. Er lebte selber jahrelang auf der Straße, verstoßen von seiner Familie, weil er sich prügelte und weil er Alkoholiker war, höchstens drei Jahre seines Lebens war er in einer Schule, und wäre selber fast an Krankheiten und Hunger gestorben. Dann half ihm jemand, ein Christ. Er erzählte davon, dass auch Jesus den Bettlern auf der Straße geholfen habe. Der Mann wurde gesund und begann, sich um Behinderte zu kümmern, die von ihren Familien verstoßen wurden, und die auf der Straße dahin vegetierten. Wir besuchten seine Einrichtung, die mittlerweile groß geworden ist. Er sagte, dass er jeden Tag zu Gott bete, damit er die Kraft bekommt, diese Arbeit zu tun. Eine unglaubliche Arbeit. Auch eine Umkehrgeschichte und eine Geschichte von der Kraft der Vergebung Gottes. Bevor wir gingen, sagte er: denkt an uns und betet für uns!
Amen.
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